Der 23. Februar 2012
Gedenktag in Berlin für die Opfer der Zwickauer Terrorgruppe
Zeitzeugengespräch an der Oberschule Elstal mit Erhard Stenzel aus Falkensee
Der 23. Februar war in mehrerer Hinsicht ein besonderer Tag. Nicht nur für die Oberschule in Elstal, sondern überhaupt für die Bundesrepublik. Das kling hochgestochen und übertrieben, stimmt aber. Endlich hatte die Bundesregierung sich durchgerungen einen Gedenktag für die geschmähten Opfer der Nazi-Terrorgruppe aus Zwickau, die zehn Jahre lang unbehelligt von Geheimdiensten und Polizei in der ganzen Bundesrepublik ihr Unwesen treiben konnte, abzuhalten. Die Hinterbliebenen dieser Opfer berichten schier Unglaubliches: Sie waren von den Ermittlern wie Terroristen behandelt worden. Der Gedenktag fand am 23. Februar im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt in Berlin unter großem Interesse der Öffentlichkeit statt.
Die Lehrerinnen und Lehrer der Oberschule Elstal fanden in ihren Fächern ein Schreiben des Schulamtes, in dem sie aufgefordet wurden, anlässlich der Gedenkveranstaltung in Berlin in den Klassen eine Gedenkminute abzuhalten.
Es war mal wieder Zufall: Die Klasse 10c hatte zu diesem von der Bundesregierung angesetzten Gedenktag einen Zeitzeugen geladen, der einige lebensbedrohliche Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus machen musste. Geladen war Herr Erhard Stenzel, Jahrgang 1925, aus Falkensee, der älteste Stadtverordnete der Stadt Falkensee und Ehrenvorsitzende der Fraktion „ die Linke“ im Stadtparlament von Falkensee.
Schon einmal, und zwar 2008, hatte die Oberschule Elstal Herrn Stenzel zusammen mit seinem Namensbruder Carl Stenzel zu Gast. Im Jahre 2011 sollte Herr Stenzel abermals seinen Lebensbericht über die Zeit des Zweiten Weltkrieges und darnach an der Oberschule vortragen. Er musste jedoch abgesagt werden, weil Herr Stenzel einen schwerwiegenden Unfall erlitten hatte, den er später in einem Interview mit Klaus Meynersen in der BRAWO vom 5. 02.2012 wie folgt kommentierte: „ Ich bin dem Tod schon mehrmals von der Schippe gesprungen“.
Erhard Stenzel, am 5. Februar 1925 in Freiberg in Sachsen geboren, war 8 Jahre alt, als die Nazis seinen Vater abgeholt hatten. Seit diesem Tag hatte er seinen Vater nie wieder gesehen. Das war am 2. Mai 1933. Im Januar 1933 war Hitler an die Macht gekommen. Zug um Zug wurden alle politischen Gegner des Nationalsozialismus ausgeschaltet. Erst die Kommunisten, die Gewerkschafter, die Sozialdemokraten, die progressiven Kirchenleute, kritische Intellektuelle, Schriftsteller, Künstler.
Erhard Stenzels Vater war Kommunist. Derjenige, der seinen Vater die Treppen hintergeprügelt hatte, war Erhards Klassenlehrer.
Der Schüler Stenzel gilt von nun an als Risiko: Ein weltanschaulich bedenklicher Kandidat, dem in allen Dingen zu misstrauen ist. Folglich wird er isoliert und schikaniert. Heute würde man sagen, dass er mit Billigung von Lehrern und Schulleitung gemobbt wird.
Er übersteht das Dauermobbing und findet einen Ausbildungsplatz im Druckergewerbe. Wahrscheinlich haben ihm wohl gesonnene Bekannte der Familie diskret geholfen.
Nun hätte das Leben des jungen Mannes ganz unspektakulär verlaufen können, wenn es da nicht einen gewissen Zwischenfall gegeben hätte, der alles änderte.
Im damals tobenden U-Boot-Krieg im Atlantik steht es noch gut für die Deutschen. Sie versenken zahlreiche Schiffe. Die Versorgung Englands, dem zu diesem Zeitpunkt noch einzig stand haltenden Kriegsgegner des Hitlerreiches drohen die Ressourcen auszugehen.
Die Naziregierung möchte aus den Erfolgen im U-Boot-Krieg propagandistisches Kapital schlagen. Alle Zeitungen müssen über diese Erfolge berichten, um die Bevölkerung darauf einzustimmen, dass der Krieg auf einem guten Weg zum Sieg sei. (1943 kommt der U-Boot-Krieg zum totalen Erliegen!)
Ein junger Lehrling in Freiberg wird beauftragt, die fertig gesetzte Titelseite von der Setzerei zur Druckerei zu transportieren, und dabei widerfährt ihm das Missgeschick, dass ihm der Setzrahmen entgleitet und die zahllosen Lettern sich auf dem Fußboden verteilen.. Konsequenz: Es wird in der Region am nächsten Morgen kein Titelblatt mit der Siegesbotschaft geben.
Für die GESTAPO ein klarer Fall: Sohn eines KZ-Häftlings lässt den Setzrahmen mit einer entscheidenden Siegesmeldung der Wehrmacht fallen: Eindeutig ein Sabotageakt..
Also wird der junge Lehrling verhaftet und nach Dresden in das berüchtigte Stadtgefängnis verbracht. Er wird misshandelt, verhört, misshandelt und muss unter vorgehaltener Pistole Enthauptungen beiwohnen. Zwölf mal muss er mit ansehen, wie Menschen unter dem Beil zu Tode kommen.
Erhard Stenzel bleibt bei seiner Darstellung; die Nazis haben es schließlich leid und haben bald eine bessere Verwendung für den jungen Mann. Er soll in den Krieg und für Deutschland kämpfen. Da kann er ja zeigen, für wen er steht. In Erhard Stenzels Bewusstsein hat sich jedoch schon längst der Entschluss gebildet: „ Für die kämpfst du nicht.“ Das war im Herbst 1942. Er erhält einen Marschbefehl nach Norwegen. Er ist drei Monate unterwegs, bevor er in Hammerfest in Norwegen auf seinem Stützpunkt ankommt. Stets eilt ihm seine Akte voraus, in der steht, dass er ein Risiko für den Nationalsozialismus darstellt. Seine Vorgesetzten begegnen ihm immer mit Misstrauen.
In Norwegen sind etliche deutsche Soldaten nach Schweden geflohen, in der Hoffnung dort Aufnahme zu finden. Sie wurden jedoch an der Grenze von der schwedischen Miliz aufgegriffen und den deutschen Behörden überstellt. Das bedeutete den sicheren Tod. Jedem Kriegsverräter drohte die Todesstrafe durch Erschießen. (Kein Ruhmesblatt für die neutralen Schweden. Wer die Romane von Mankell gelesen hat, erfährt beiläufig, dass es auch in Schweden nazifreundliche Bestrebungen in der schwedischen Politik gegeben hat, und was neuere Krimiautoren aus Schweden immer wieder belegen, noch heute gibt.)
Inzwischen ist es Dezember geworden im Jahre 1943. Nur zur Erinnerung: Im Winter 1942/43 geht die 6. Armee in Stalingrad mit mehr als 110.000 Mann in die Gefangenschaft. Der U-Boot-Krieg gegen England und den USA ist komplett zum Erliegen gekommen. Die Alliierten sind in Nordafrika und in Sizilien gelandet. Italien hat sich von Hitlerdeutschland losgesagt. Die Tage des Naziregimes sind gezählt.
Erhard Stenzel wird nach Nordfrankreich versetzt. Er hat damit Glück, selbst wenn er das so nicht gleich sieht. Er hätte auch an die russische Front versetzt werden können. Was seiner Zeit im Volk allgemein bekannt war, eine Versetzung an die russische Front, das war eine Freifahrkarte ins Jenseits.
In Nordfrankreich um die Stadt Rouen ist die französische Widerstandsbewegung sehr gut organisiert. Sie umfasst alle Schichten der Bevölkerung: Arbeiter, Bauern, Beamte, Ärzte, Schriftsteller. Sogar Prostituierte spielen in dieser Widerstandsbewegung eine wichtige Rolle: Mancher deutscher Offizier, fern von der Heimat, wird nach dem Liebesakt redselig und plaudert wertvolle Informationen aus, die an die Résistance weitergeleitet werden.
Erhard Stenzel lernt in Rouen einen Schuster kennen, der aus dem Elsass stammte. Die Elsässer sprechen eine Sprache, die die Sachsen verstehen können, wenn auch mit Mühe. Sie kommen ins Gespräch und bald wird dem Schuster aus Rouen klar, dass man den jungen Deutschen, dessen Vater im KZ schmort, für die Dienste der Résistance gebrauchen kann. Seine Flucht aus der Wehrmacht wird geplant und vorbereitet. Am 3. Januar 1944 ist es dann so weit. Erhard Stenzel berichtet, dass er an diesem Abend auf Patrouille war. Mit ihm zwei weitere junge Burschen, die frisch aus der Heimat kamen und satt gefüttert mit Naziparolen waren. Während des Patrouillengangs eröffnet er den beiden jungen Kameraden, dass der Krieg für ihn jetzt beendet sei und wenn sie klug wären, würden sie seinem Beispiel folgen. Die beiden halten nichts vom Überlaufen. Sie glauben an Hitler, sie glauben, dass sie für eine gute Sache kämpfen. Also muss Erhard Stenzel seine beiden Kameraden entwaffnen. Er verspricht ihnen jedoch, dass sie von ihm nichts zu befürchten hätten, solange sie sich an die Abmachungen hielten. So vollzog sich Erhard Stenzels Flucht, was am 5. Februar 2012 in der Märkischen Oderzeitung mit der Titelzeile „Vollbewaffnet in den Widerstand“ gewürdigt wurde. Erhard Stenzel lief mit den beiden Karabinern seiner Kameraden und seiner persönlichen Ausrüstung in der Tat mit Waffen behangen zur Résistance über.
Im Januar 1944 wurde er in die Résistance und in der kommunistischen Partei aufgenommen und später in Geheimcamps ausgebildet. Er operierte in einer deutschsprachigen Brigade bis zur Befreiung Frankreichs gegen die Wehrmacht.
Als der Krieg auf deutsches Territorium übergriff, wurde er aus den Tagesoperationen herausgehalten. Wäre er in Deutschland von der SS aufgegriffen worden, wäre er auf der Stelle erschossen worden.
Nach Kriegsende wurde er in Frankreich mit der französischen Tapferkeitsmedaille ausgezeichnet. in seiner Heimatstadt Freiberg war er mehrere Monat zuvor in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden.
Die Rückkehr nach Deutschland gerät zum Alptraum. Die meisten deutschen Städte liegen in Trümmern. Das Elend ist unvorstellbar. Doch Freiberg hat nichts abgekriegt. Die Häuser sind wohl behalten, aber was ist mit den Menschen? Als Erhard Stenzel aufs Rathaus geht, um sich Lebensmittelkarten zu besorgen, erlebt er eine Überraschung: Derjenige, der für die Verteilung von Lebensmittelkarten zuständig ist, das ist sein ehemaliger Klassenlehrer und Peiniger seines Vaters.
Später erfährt Erhard Stenzel auch, dass sein Vater 1944 im KZ Buchenwald ermordet worden ist.
Heute kennt man bei den Soldaten der Bundeswehr, die aus Afghanistan zurückkehren das Krankheitsphänomen der „posttraumatischen Belastungsstörung“. Bei all den Kriegserlebnissen, die die Menschen damals erlebt haben an der Front oder im Luftschutzkeller, muss man doch mal fragen, wie diese Menschen, egal auf welcher Seite sie nun gestanden haben mögen, die zahllosen Traumata „verarbeitet“ haben. (Ihnen hat damals nach 1945 niemanden psychologischen Beistand gewährt.)
Knapp drei Schulstunden hat Herr Stenzel aus seinem Leben berichtet. Drei Stunden hat die 10c zugehört, was ihr normalerweise sehr schwer fällt. Aber sie folgten den Ausführungen gebannt, stellten gute Fragen. Am Schluss brandete Beifall auf. Die Schüler hatten begriffen, das Leben und die Lebensleistung dieses Mannes, das stellt etwas ganz Außergewöhnliches dar. Ein Mann, der gegen den damaligen allmächtigen Mainstream unter Einsatz seines Lebens angegangen ist. Das nötigt ein großes Maß an Respekt ab. Eine Anerkennung, die den Deserteuren der Wehrmacht über 50 Jahre hinweg vorenthalten worden ist. Erst am 17. Mai 2002 wurden die Todesurteile gegen die Kriegsverräter/Deserteure von der damaligen Bundesregierung aufgehoben. (Mehr als 30.000 Deserteure wurden im Zweiten Weltkrieg in Deutschland zum Tode verurteilt.)
Aber da ist noch etwas! Die Trauerfeier vom 23. Februar in Berlin! Wer kennt schon die Namen der 10 Opfer nationalsozialistischen Terrors aus den Jahren 2000 bis 2006? Mit dem Unwort „Dönermorde“ wurden die Mordtaten banalisiert und bagatellisiert. Dass es sich um die gewaltigste Schlappe in der Geschichte der bundesdeutschen Fahndungsgeschichte geht, bleibt im Hintergrund.
Herr Stenzel legte an dem selben Tag großen Wert auf die Feststellung, dass der Nationalsozialismus und alle seine rassistischen Ausblühungen auch heute noch eine todbringende Gefahr darstellen.
Elstal, den 21. März 2012
G.Stängle
(Stellvertretender Klassenlehrer 10c)